„Big Sunscreen“: Wie Fehlinformationen extremistische Verschwörungstheorien anheizen

Seit mindestens einem Jahrzehnt verbreiten verschiedene Gruppen von sogenannten „Sonnencreme-Wahrheitssuchern“ auf Plattformen wie TikTok, Instagram und Facebook die Behauptung, dass Sonnencreme Krebs verursache. Während der Pandemie haben diese Verschwörungstheorien auf Social Media einen neuen Höhepunkt erreicht. Von veganen Impfgegnern und sogenannten Bro-Biohackern bis hin zu MAHA- und QAnon-Anhängern eint sie vor allem eins: eine ausgeprägte Chemophobie und die Überzeugung, dass Sonnencreme der Feind ist.
Das Zusammenspiel extremistischer Plattformen
Abseits der Mainstream-Plattformen tummeln sich auf extremistischen Netzwerken wie Trumps Truth Social, bekannt für die Verbreitung von Verschwörungstheorien, und 4Chan, einem berüchtigten Hort für Hass und Gewalt, radikale Gruppierungen. Dort vermischen sich rechte und linke Extreme in einer sogenannten diagonalistischen Schnittmenge, die davon ausgeht, dass alle Macht von Verschwörungen kontrolliert wird – und das spiegelt sich auch in finsteren Anti-Sonnencreme-Theorien wider.
Eine Umfrage des Orlando Health Cancer Institute aus dem Jahr 2024 zeigt, dass jeder siebte junge Erwachsene unter 35 Jahren glaubt, Sonnencreme sei schädlicher als die Sonne selbst. Gleichzeitig belegen Studien, dass der Anstieg von Hautkrebsdiagnosen in den letzten 30 Jahren vor allem auf vermehrte Sonnenexposition, exzessives Sonnenbaden und Solarien zurückzuführen ist.
Wie Verschwörungstheorien entstehen und sich verbreiten
Dr. Neil Johnson, Physikprofessor an der George Washington University, erklärt, dass viele Verschwörungstheorien auf extremistischen Social-Media-Plattformen entstehen, weil dort Gesetze und Richtlinien kaum greifen. Insgesamt sind etwa 50 Millionen Nutzer solcher Plattformen mit den 5 Milliarden Menschen auf Mainstream-Netzwerken verbunden.
Man kann TikTok, Facebook und Instagram als äußere Schicht der Anti-Sonnencreme-Bewegung betrachten, wo Wellness-Influencer und “saubere” Beauty-Marken Furcht vor Sonnencreme schüren. Eine Ebene tiefer auf Plattformen wie X (ehemals Twitter) vermischen sich solche Fehlinformationen mit QAnon-Inhalten und extremistischen Posts. Am gefährlichsten wird es im innersten Kern mit Plattformen wie Truth Social und 4Chan, die voll von Angst und Hass sind.
Eine unerwartete Symbolfigur
Frühling und Frühsommer sind Hochsaison für Verschwörungstheorien rund um Sonnencreme, sowohl in Mainstream- als auch in extremistischen Kreisen. Besonders verbreitet sind Beiträge von MAGA-Anhängern und Bro-Biohackern, die selektiv Wissenschaft zitieren und sie mit Propaganda vermischen, um die Theorie zu stützen, dass nicht die Sonne, sondern Sonnencreme Krebs verursache.
Ein besonders viraler Beitrag stammt von MatrixMysteries, einem Anhänger der Illuminati- und QAnon-Verschwörungen. Der Beitrag „Sunlight Causes Cancer—A Fear-Driven Lie“ wurde auf X über 1,4 Millionen Mal angesehen und auch auf extremistischen Plattformen wie Truth Social geteilt.
Unter den Bildern in diesem Post findet sich auch das Gesicht von Dr. Barbara Sturm, Gründerin einer Luxus-Skincare-Marke. In einem Interview mit dem Biohacker Gary Brecka, der für seine medizinische Fehlinformation bekannt ist, wird impliziert, dass man durch Hautpflege mit Wirkstoffen wie Exosomen Sonnencreme möglicherweise gar nicht mehr benötige. Dr. Sturm, die selbst eine Sonnencreme für 160 US-Dollar verkauft, versucht vorsichtig, der Theorie auszuweichen, dass Sonnencreme mit einem Anstieg von Hautkrebsfällen korreliere, verweist aber auf bedenkliche Inhaltsstoffe und bewirbt stattdessen ihre Nahrungsergänzungsmittel zur „internen Sonnenschutzunterstützung“.
Solche Interviews verstärken die Angstkampagnen in der “Clean Beauty”-Szene, vor allem wenn sie von Personen mit Verbindungen zu extremistischen Bewegungen geführt werden. Dr. Sturm lehnte eine Stellungnahme ab.
Der Bestsellerautor und Professor Timothy Caulfield beschreibt, wie Angst als Marketinginstrument in der “Clean Beauty”-Industrie eingesetzt wird, insbesondere in einer Zeit, in der Vertrauen in Regulierungsbehörden schwindet. Er erklärt das Prinzip des “Motte-and-Bailey”-Fehlschlusses, bei dem zunächst breit akzeptierte Aussagen getroffen und bei Kritik dann aggressiv zurückgezogen wird, wodurch Kritiker als Feinde dargestellt werden.
Antisemitismus und extremistische Narrative
Auf Plattformen wie 4Chan kursieren antisemitische Verschwörungstheorien, die Sonnencreme als “jüdische Lüge” oder “jüdischen Trick” darstellen. Forscherin Beth Daviess vom Middlebury Institute untersucht solche Theorien und weist darauf hin, dass einige Wellness-Influencer Ideologien vertreten, die auf antisemitischen Weltbildern wie der “Germanischen Neuen Medizin” basieren.
Diese Verschwörungstheorien sind Teil einer größeren Erzählung, die eine angeblich allmächtige und böse Kraft – häufig jüdische Gruppen – für gesellschaftliche Probleme verantwortlich macht. Plattformen wie Lookmax.org, ein Forum für Männer mit rund 3 Millionen monatlichen Besuchern, sind Brutstätten für Hassreden gegen Juden, die auch auf Sonnencreme abzielen.
Eine verbreitete Incel-These behauptet zudem, dass Sonnencreme Männer weniger maskulin mache und ihre Chancen bei Frauen mindere. Professor Caulfield widerlegt solche Mythen und betont, dass die Nutzung von Sonnencreme kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Schutz gegen Hautkrebs ist.
Der endlose Kampf der Wissenschaft
Dr. Michelle Wong, Chemikerin und Wissenschaftskommunikatorin aus Australien, widmet jährlich über 700 Stunden der Aufklärung über die Sicherheit von Sonnencreme. Trotz ständiger Angriffe und Beschuldigungen bleibt sie geduldig und widerlegt Mythen auf TikTok, YouTube und Instagram.
Besonders besorgt ist sie über Eltern, die Fehlinformationen glauben und ihren Kindern keinen Sonnenschutz geben. Sie warnt, dass Sonnenbrände vor dem 18. Lebensjahr das Risiko für Melanome deutlich erhöhen, da junge Stammzellen noch empfindlicher sind.
Eine Studie belegt, dass Jugendliche mit fünf oder mehr schweren Sonnenbränden im Alter von 15 bis 20 Jahren ein 80 % höheres Risiko für Melanome und ein deutlich erhöhtes Risiko für andere Hautkrebsarten haben.
Professor Caulfield mahnt, dass die Polarisierung und das Verbreiten von Fehlinformationen reale Folgen haben und zu einer Verengung des Diskurses führen, in dem keine Nuancen mehr möglich sind.
Dr. Wong reagiert in den sozialen Medien stets ruhig auf skeptische Kommentare, fasst Fakten zusammen und widerlegt Panikmache – bis der nächste angstmachende Beitrag wieder neue Unsicherheit sät.